Munter bekränzte Hochzeitsgäste auf dem Land: so zu sehen in „Bovary“ von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Serghei Gherciu
Schwarz ist eine kalte Farbe. Selten wird das so deutlich wie in der neuen Kreation von Christian Spuck, dem frisch gebackenen Ballettintendanten Berlins, der sein Werk gestern – und arte concert übertrug die Uraufführung online live – mit dem Staatsballett Berlin (SBB) in der Deutschen Oper Berlin (DOB) präsentierte. „Bovary“ heißt das abendfüllende so genannte „Tanzstück“, also das Ballett, das nach dem weltbekannten Roman „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert entstand. So rudimentär der Titel ist – den die nicht ganz Gebildeten im Publikum als „Bowáhri“ aussprechen – so reduziert ist die Geschichte. Es geht aber, wie bei Flaubert, um eine Frau, die sich selbst sucht und, welch Wunder, sich im Konsum von Sex und Mode verliert. Es ist also das getanzte Psychogramm einer erst gelangweilten, sich dann in Affären und Verschwendungssucht austobenden, schließlich ob der Schulden, die sie anhäuft, dramatisch Suizid begehenden Arztgattin. Der Spielort ist die französische Provinz, in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Christian Spuck erlaubt sich noch die Zutat zeitgenössischer Kostüme und eines Kameramanns auf der Bühne, und ein Teil der „Kompanie“, wie das SBB sich jetzt schreibt, tanzt in zeitgenössischer Kleidung. Stilistisch wird stets ein ästhetisches Niveau gewahrt, allerdings werden bekannte andere choreografische Handschriften zusammen gestöpselt. Da erkennt man John Cranko, John Neumeier, Johan Inger – und wirklich Neues gibt es nur wenig. Doch: Alle paar Szenen liest eine Off-Sprecherin aus Flauberts Roman vor. Und zwar immer dann, wenn es spannend wird. So ist dieses Tanzstück auch als Hörspiel mit Musik zu akzeptieren.
John Cranko, Begründer vom Stuttgarter Ballettwunder – das Jahre später auch Christian Spuck hervor brachte – kommt ins Kino! Ab 3. Oktober 24, mit Verve gespielt von Sam Riley in der Regie von Joachim A. Lang. Bild:Philip Sichler_Zeitsprung Pictures_SWR_Port au Prince Pictures / ANZEIGE
Der modern auftretende Teil der Tänzer biegt sich allerdings im schwarz grundierten Contemporary style – und zwar, um Emmas Gedanken und Gefühle zu illustrieren. Das ist psychologisch nachvollziehbar, blendet aber Emmas Umwelt komplett aus. Was bei Flaubert noch Gesellschaftskritik ist, verkommt hier zur puren Deko.
Im Hintergrund flimmern dazu stumm-beredte, manchmal kaum erkennbare Schwarzweißfilmchen. Nostalgie als letzte Zutat im Ballett – dieses Konzept ist auch nicht ganz neu.
Christian Spuck brachte für diese Kreation übrigens sein schon oft erprobtes Team für Handlungsballette mit: Claus Spahn für die Dramaturgie und Emma Ryott für die teils opulenten, teils schlichten Kostüme. Rufus Didwiszus baute reduzierte, aber aussagekräftige Bühnenbilder und Martin Gebhardt tauchte alles in ein zwar nicht besonders anregendes, aber passendes Licht.
Das Brautpaar festlich-erstarrt, die Gästeschar ausgelassen: So heiratet die „Bovary“ bei Christian Spuck und dem Staatsballett Berlin. Foto: Serghei Gherciu
Und so erleben wir die Hochzeit von Emma mit dem Arzt Charles Bovary (gediegen getanzt von Alexej Orlenco) als eher statisches Spektakel, bei dem allenfalls die munteren, ländlich bekränzten Gäste Spaß und Frohsinn verbreiten.
Der erste Pas de deux der Brautleute schwimmt noch ganz in hoheitsvoller Erwartung. Am Ende küsst er seine Frau keusch auf die Stirn… man ahnt, er wird diesen brodelnden Vulkan von Frau nicht glücklich machen können.
Bald beginnt Emma, sich zu langweilen. In Flauberts Worten: „Die Langeweile, diese lautlose Spinne“ begann, ihre Netze „über jeden Winkel ihres Herzens“ zu weben. Ach, wir fühlen mit ihr!
Und erst, als sie und ihr Mann zu einem Ball auf ein Schloss eingeladen werden, eröffnen sich Emma Welten, die sie faszinieren: Die vornehmen Kleider der Damen (ihr eigenes inbegriffen), die charmante Art der sie begleitenden Gentlemen und vor allem die jungen hübschen Männer begeistern sie. Oh, Emma wäre jetzt so gern eine Lebedame!
Ohne Spitzenschuhe, aber mit viel Eleganz tanzt das Staatsballett Berlin die Fantasie einer Fantasie, die wie ein Klischee auf der Bühne wiederholte „große Welt“, die doch so stark aus Balletten wie „Onegin“ von Cranko oder „Die Kameliendame“ von John Neumeier abgekupfert scheint. Ein wenig eigenes Herzblut hätte Christian Spuck da wirklich schon fließen lassen können. Aber er verlässt sich auf arrangierte Tableaus und Posen, und Bewegungen, die Gefühl ausdrücken, findet man hier fast gar nicht.
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Vielmehr geht das Lied von der unersättlichen, hochmütigen und tief stürzenden Emma hier so:
Emma, im lila Ballkleid, steht plötzlich zwischen sich lasziv biegenden Contemporary-Paaren, als sei sie nach einer Zeitreise im falschen Jahrtausend unterwegs – und sie ist erstarrt und entsetzt, einer entsprechenden Musik lauschend. Wovor hat sie Angst? Vor dem Ende, das wir dank der Sprecherin schon ganz zu Beginn kennen lernten? Vor dem Tod durch Arsen?
Doch dann taucht ein Trio auf: Eine Frau tanzt mit zwei Männern. Und zwar unverkennbar im Stil von Nacho Duato, der hier in Berlin mal Ballettintendant war. Das ist wohl Emmas geheimste Lustfantasie.
Solche Szenen wirken interessant. Aber sie halten nicht, was sie versprechen, denn sie verpuffen ganz einfach, lösen sich auf, ohne szenische oder tänzerische Folgen. Und die Solisten müssen mit ihren hoch trainierten Körpern halt das Beste draus machen und diese dünne Soße als kostbaren Kaviar servieren.
Weronika Frodyma und Dominik White Slavkovsky in „Bovary“: Sie besucht ihren Warenhändler, zu dem sie die Konsumsucht treibt. So zu sehen beim Staatsballett Berlin. Videostill: Gisela Sonnenburg von arte concert
Unter der Leitung von Jonathan Stockhammer spielt das Orchester der Deutschen Oper Berlin dazu live, und der Pianist Adrian Oetiker hat mit romantisch-gefühligen Klavierkonzert-Auszügen von Camille Saint-Saens beide Hände voll zu tun.
Orchester-Klänge etwa von Charles Ives und György Ligeti sind hingegen oft schwermütig und ohne passenden Kontext auch schwer zu ertragen, aber ihre Sounds dienen als Untermalung.
Die Musik dient hier ohnehin nur als Stimmungstreiber, ist vom Choreografen nicht wirklich ernst genommen.
Oft wird, wie schon ganz zu Beginn, in die Stille hinein getanzt – und irgendwann setzt Musik dazu ein, aber ohne Anlass, ohne Verknüpfung. Der Rhythmus scheint hier total egal zu sein, und Melodien werden lediglich als sentimentale Emotion genutzt.
Musikalische Choreografien sehen anders aus. Das ist klar.
Die Einheit zwischen Tanz und Musik, die für Ballett unverzichtbar ist, suchen wir hier eher vergebens.
Dafür geht es zackig mit der Handlung voran. Bei einer Militärparade lernt Emma den schönen Rodolphe kennen, der von David Motta Soares so brillant als leidenschaftlicher Dandy getanzt wird, dass man meint, Eugen Onegin sei eigentlich ein Franzose und hier sehe man sein Urbild.
Emmas Lebenslust, ja Lebenssucht wird von der Beziehung zu diesem Schönling getriggert. Fortan ist sie ein williges Opfer des Schneiders und Warenhändlers – der von Dominik White Slavkovsky mit kleinen virtuosen Soli getanzt wird, die an „Tschaikowsky“ von Boris Eifman erinnern. Hier ist die Kreativität kein Geniestreich, sondern eine Modetat: Emma bestellt Kleider und delikate Einrichtungsgegenstände, sie will sich und ihr Umfeld zu dem aufmotzen, was sie für die „große Welt“ hält.
Und dann trifft sie den smarten Dandy Rodolphe, der ihr Liebhaber wird. Ein Gedanke, der sie völlig begeistert. Endlich ist sie etwas Besonderes, so meint sie.
Ein hervorragendes Bühnenpaar: David Motta Soares als Rodolphe und Weronika Frodyma als „Bovary“ im gleichnamigen Tanzstück von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin. Videostill: Gisela Sonnenburg von arte concert
Diesen einen Höhepunkt hat das Spuck‘sche Tanzstück unbestreitbar, und schon diese eine wirklich hervorragende Szene ist es wert, die „Bovary“ zu besuchen: David Motta Soares als Rodolphe verführt die liebesbereite Emma Bovary in einem mehrfach unterbrochenen, dennoch schlüssigen Pas de deux, als wäre es ein bislang unbekanntes Teilstück aus der „Kameliendame“ von John Neumeier.
Wahrlich, sie könnten Marguerite und Armand sein, an denen sich schon Frederick Ashton kongenial abgemüht hat und deren Liebesgeschichte sich hier en francais zu wiederholen scheint.
Zu perlender Klaviermusik, in einen knielangen Gehrock über einem weißen Hemd mit ausladendem Kragen gewandet, verkörpert Soares mit kleinem Bärtchen bis aufs i-Tüpfelchen glaubhaft den zugleich lässigen, fast nachlässigen und dennoch stilbewussten Dandy.
Kein Wunder, dass sich die frustrierte Ehefrau, die Weronika Frodyma glaubhaft, wenn auch ein wenig frostig darstellt, rasch, ja allzu rasch in seine Arme fallen lässt.
Hier tanzt die Bovary mit ihrem Händler, aber ähnlich elegant ist ihr Fuß auch in den Szenen mit Rodolphe. Zu sehen beim Staatsballett Berlin, in „Bovary“ von Christian Spuck. Foto: Serghei Gherciu
Zwischen den beiden Bühnenfiguren funkt es sichtlich, und dass Soares als Rodolphe die unerfahrene Emma vollauf verliebt macht, ist nur zu wahrscheinlich.
Man kostet von dieser Passion der beiden Ungleichen zueinander jeden Moment aus. Das ist, was man im Ballett sehen will – und wäre Spuck nicht so technikversessen, hätte dieses Stück Tanz auch Herz.
Dass Emma hier in Spitzenschuhen tanzt, ist nur angemessen. Arabesken und Attitüden sind beliebte Damenposen im Pas de deux, aus denen heraus der Partner sie hebt und dreht, herum wirbelt und liebkost.
Dass er sie sichtlich schnell flachlegen kann, ist famos umgesetzt. Dass er sie nicht liebt, sondern nur in sexueller Hinsicht begehrt, unterscheidet ihn von seinen tänzerischen Vorbildern Armand und Onegin. Aber die Wildheit in seinem Drang entspricht schon fast dem der Liebe.
Es gibt Spagathebungen und viele Cambrés, reichlich Küsse und ein stürmisches Zu-Boden-Gehen.
Als Rodolphe aber nach getaner Sexarbeit von dannen läuft, bleibt Emma aufgewühlt und verändert zurück.
Weronika Frodyma und David Motta Soares in „Bovary“ beim Staatsballett Berlin.Emma und Rodolphe sehen sich hier vor ihrem Tod noch einmal wieder. Foto: Serghei Gherciu
Ihr Gatte Charles erscheint – und bemerkt nichts. Er hakt einfach ihren Arm unter seinen ein, ganz wie bei ihrer Hochzeit. Und das gleich des öfteren! Spielt er nur die Normalität? Nein, er lebt in seiner eigenen heilen Welt, und in der kommen Zweifel an der Treue der Gattin nicht vor.
Ein wenig bekümmert es, dass Alexej Orlenco hier bis zum bitteren Ende ausnahmslos den sanftmütigen, liebenden Ehemann mimen muss. Nicht ein einziges Mal wird er zornig, wütend, missgelaunt wegen seiner verschwenderischen Gefährtin. Nicht ein einziges Mal hat er Streit mit ihr oder wird zumindest melancholisch ob ihrer Anwandlungen. Riecht er den fremden Mann nicht in ihrem Haar?
Und welche Obsessionen hat er selbst? Es muss etwas geben, das er interessanter findet als die Stimmungslage seiner Frau. Aber da ist unsere eigene Vorstellungskraft gefordert – Christian Spuck jedenfalls weiß keine Antwort.
Emma Bovary (Weronika Frodyma) mit gleich fünf Kavalieren – ein bedrängender Traum oder auch Alp, wohl eine Zwangsvorstellung der fiktiven Figur. So zu sehen in „Bovary“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Serghei Gherciu
So kapriziert sich das Stück allein auf die weibliche Titelfigur. Warum ihr im Titel die Weiblichkeit genommen wurde, ist übrigens unklar – möglicherweise aus Gender-Gründen, denn Spuck ist ein glühender Verfechter allen Genderns in jedweder Hinsicht. Stolz berichtete er in einem Interview, dass er fortan nicht mehr „Damen und Herren“ begrüßen werde, denn das schließe all jene, die sich zwischen den Geschlechtern wähnen, aus. Und auch, wenn er blind für bestimmte Dummheiten sei, werde er das nie mehr so formulieren. Denn damit könne er zwar nicht die Dummen, aber die Blinden beleidigen. Oh! Ob Spuck sich da nicht ein wenig zu geschmeidig den neuen Zensoren als lukrativer Untertan zur Verfügung stellt?
Zurück zur Aufführung. Schon in der Pause war klar: Weronika Frodyma begeisterte in der Titelrolle das Premierenpublikum. Ihr makellos muskulöser Rücken kommt in den tief ausgeschnittenen Ballkleidern besonders gut zur Geltung, ihre schönen Füße und Beine hat sie hervorragend unter Kontrolle und ihr Leib zeigt Weichheit und Härte zugleich. Mit dem Gesicht vermag sie zwar nicht wirklich gut zu spielen, aber sie reißt die Kulleraugen oft ganz weit auf und rollt dann mit ihnen, nachgerade furchterregend, als sei sie eine hysterische Nymphomanin. Sie erfüllt das Klischeebild, das Christian Spuck inszenierte, zur Gänze.
Kenner freuen sich dennoch auf die ebenfalls besetzte Polina Semionova in dieser Partie.
Sie vermag vielleicht auch das zu vermitteln, was Spuck in der Pause stattfinden lässt, was für uns also eigentlich unsichtbar bleibt. Denn kurz vor Ende des ersten Teils liest Emma den Abschiedsbrief von Rodolphe, der sich jetzt lieber einer anderen Liebschaft hingeben möchte. Und sie verzweifelt darüber, war er doch die bis dahin größte Liebe und Leidenschaft in ihrem so oft von Ödnis bedrohten Lebensgefüge.
Weronika Frodyma als „Bovary“: Sie liest den Abschiedsbrief von Rodolphe, den sie liebt. So zu sehen beim Staatsballett Berlin in der Deutschen OperBerlin– und einmalig als Live-Übertragung während der Premiere bei arte concert. Videostill: Gisela Sonnenburg
Nach der Pause aber ist vom Kummer keine Spur mehr. Emma findet sich unter kreischbunten, glamourösen Revue-Künstlern aus unserer Zeit wieder, freilich nicht allein. Der junge Léon, etwas gestelzt getanzt von Alexandre Cagnat, der ihr schon kurz nach ihrer Hochzeit den Hof machte, ist bei ihr. Und Emma tritt mit ihm auf, als seien sie ein Paar.
Im Hinterzimmer der Provinz lockt also fortlaufend die Untreue. Wer hätte das gedacht! Eine weitere Mitteilung über die Gesellschaft kennt das Tanzstück von Spuck aber leider nicht.
Und so bleibt einem nichts anderes als die bunten, sehr ansehnlich choreografierten Bilder zu genießen. Ans Herz geht da aber nichts, und unter die Haut schon gar nicht.
Die Nummerngirls bleiben hier Nummerngirls, auch ohne Nummernschild. Da hilft der schönste Goldmini zum Spitzenschuh nichts, kein Federbusch auf dem Kopf hilft, und keine metallene Sandale rettet den Abend noch.
Mit einer Revue-Szene beginnt das Tanzstück nach der Pause. „Bovary“ und ihr neuer Liebhaber vergnügen sich dort, in der Inszenierung von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin. Videostill von arte concert: Gisela Sonnenburg
Es geht bergab. Mit Emma sowieso.
Léon, so verrät die Sprecherin aus dem Off, wird ihr bald genauso fern wie alles andere in ihrem Dasein. Szenisch überfordert sie ihn, vor allem sexuell. Erschöpft liegt er da, während sie nicht genug kriegen kann. Und der etwas dämliche Popsong mit dem Refrain „Go!“ von der Sängerin Camille, den Emma und wir anhören mussten, als es schmerzvoll in die Pause ging, ertönt auf ein Neues. „Go!“ wird da gehaucht – nun ja, warum nicht…
Es ist einfach zu trivial, wie Spuck hier die zweieinhalb Stunden füllt.
Abgesehen von dem großartigen Pas de deux von Rodolphe und Emma im ersten Teil wird es ärmer und ärmer, was wir sehen. Emma versucht, den Warenhändler zu verführen, um dann in Naturalien bezahlen zu können. Aber der gute Mann lehnt ab – er will sein Geld, das sie nicht hat und ihr Gatte längst auch nicht mehr. Denn Emmas Lebensstil nebst teuren Ballroben hat das Paar bereits ruiniert.
Im Roman von Gustave Flaubert gibt es auch ein Kind der beiden, die Tochter Berthe. Es ist erschreckend, mit welcher Gefühlskälte Emma das Kind vernachlässigt und dessen Schicksal kaum Aufmerksamkeit schenkt. Tatsächlich endet der Roman auch nicht mit dem Selbstmord der verschuldeten Arztgattin. Sondern es wird beschrieben, wie der Witwer zu Grunde geht und sein Kind schließlich als Arbeiterin in einer Textilfabrik landet.
Diesen sozialkritischen Hintergrund hat Christian Spuck sorgsam aus der Welt der Schönen und Reichen, für die er arbeitet und die ihn bezahlen, entfernt. Er ist eben kein Marius Petipa, der, obwohl er für die zaristische Gesellschaft kreierte, immer auch gesellschaftliche Utopien und auch Kritik in seine Werke einschleuste.
Nun ja. Hier ist auch nur Berlin und nicht Sankt Petersburg. Wer wüsste das besser als die Ballettfans!
Und noch ein Mann, der nicht ihr Ehemann ist, erobert die Bovary: Léon alias Alexandre Cagnat. So zu sehen beim Staatsballett Berlin. Foto: Serghei Gherciu
Die Beziehung zu Charles, immerhin, bekommt auch in Spucks Augen Brüche. Da ist er gar nicht blind. Ein Pas de deux kurz vor Emmas Suizid wirkt bewusst dissonant und geistlos. Sind sie eigentlich noch ein Paar? Merkwürdig ist, dass Charles auch hier keine Zweifel an seiner Emma bekommt. Er leidet, aber wohl nicht an ihr. Sondern an der Welt allgemein?
Ist er so sehr daran gewöhnt, dass sie ihm nie gehören, nie zu ihm passen, ihn nie lieben wird? Das wäre schrecklich, aber solche Beziehungen soll es ja geben.
Emma flüchtet in ihre modernen Tanzfantasien. Mit gleich fünf Kavalieren tanzt sie jetzt. Sie fühlt sich aber auch bedrängt von soviel Männlichkeit. Sind es gar zwanghafte Vorstellungen, die sie jetzt verfolgen?
Die untreue Ehefrau muss bestraft werden. Bei dieser miesen Moral seiner Zeit blieb Gustave Flaubert – obwohl sein Roman hohe Wogen der Empörung schlug, zensiert wurde und dennoch vor Gericht landete (und dort mit einem Sieg davon kam).
Es ist dennoch wie später bei Leo Tolstoi in„Anna Karenina“: Die untreue Gattin wird von ihren eigenen Dämonen in den Tod gehetzt. Spuck hat übrigens auch eine„Anna Karenina“ kreiert, die deutlich mehr Einfälle und auch Gefühl aufweist.
Vielleicht widmet er sich nächstes Mal ja einer wirklich starken Frau, die weiß, was sie tut – und nicht nur als Spielball ihrer eigenen niederen Triebe gelten muss. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Vorher aber geht es Emma an den Kragen.
Dass der Gerichtsvollzieher genüsslich all ihre Luxushabe sichtet, setzt ihr zu. Sie sieht keinen Ausweg mehr aus der Sackgasse, in der sie fest steckt.
Emma klammert sich an Rodolphe: Weronika Frodyma und David Motta Soares in „Bovary“ von Chistian Spuck in Berlin. Videostill: Gisela Sonnenburg von arte concert
Dann trifft sie Rodolphe noch einmal, tanzt mit ihm – und liebt ihn sofort wieder. Für ihn ist sie nur noch ein abgelegtes Abenteuer, sie aber klammert sich an ihn. Doch er ist der Falsche für ihre Liebe.
Er flieht vor ihr.
Noch einmal erinnert sie sich an ihre Hochzeit. Das Dienstmädchen (tapfer stocksteif, immer mal wieder auf der Bühne: Vivian Assal Koohnavard) und Gatte Charles assistieren.
Schließlich steht dann eine große Flasche Arsen da, die ausreicht, halb Frankreich zu vergiften. Sie ist so überdimensioniert groß, weil Christian Spuck möchte, dass jeder sie richtig identifiziert. Hat er Angst, man könne sie übersehen? Eine eimergroße Arsenflasche wirkt aber eher comicreif, nicht tragisch. Das ist kunsthandwerklich anzusehen und nicht eben typisch für ein Meisterwerk.
Jedenfalls enthält die Riesenflasche eine mehlartige Substanz – und die pudert sich Emma kräftig ins Gesicht. Danach klappert sie mit den Zähnen, sinkt ein, fällt hin und lässt sich von Charles, der sie immer noch ohne jedwedes Entsetzen einfach nur liebhat, umfassen.
Vielleicht genießt er es, endlich stärker zu sein als sie.
Sie stirbt schließlich nicht in seinen Armen, sondern geächtet und allein, kopfwackelnd und sitzend auf einem Stuhl. Der Kameramann, der sie schon öfters ins Visier nahm, ist wieder da – und der Tod durch Arsen scheint so etwas Ähnliches wie ein Rausch der Einsamkeit zu sein.
„Bovary“ stirbt, Emma stirbt. Allein. Unglücklich. Beobachtet von einem imaginären Kameramann, im teuren Kleid, freiwillig qualvoll durch Arsen. So zu sehen in der Deutschen Oper Berlin. Videostill: Gisela Sonnenburg von arte concert
Der schwarze Vorhang senkt sich. Gut so. Endlich. Selten blieb ich so ungerührt bei einem Bühnentod. Wenn ich da an Yuri Grigorovichs „Romeo und Julia“ denke, das ich nur von Videos kenne – aber dieses Tanzstück bringt mich jedes Mal zum Weinen, gerade weil es auch den Epilog, in dem sich die Familien der toten Liebenden versöhnen, zeigt. Hätte Spuck nicht wenigstens ein Herz für Berthe, die vernachlässigte Tochter von Emma, haben können?
Aber ihm geht es um den schnellen, oberflächlichen Erfolg, und den wird er wohl haben. Wer hinterfragt heutzutage denn noch Kultur?
Das Staatsballett Berlin tanzt zudem mit bewährter Besessenheit, und jeder Schritt, jede Pose, jede Geste sitzen.
Allerdings: Die maliziöse Arbeit der Tänzer am Technischen täuscht nicht darüber hinweg, dass Schwarz hier eine kalte, eine sehr kalte Farbe bleibt. Nichts berührt einen, nichts hat Seele. Niemand kann da weinen, obwohl sich eine Tragödie auf der Bühne abspielt. Der Tod, die Lieblosigkeit, das Entsetzen – sie sind einfach nur kalt.
Weronika Frodyma als „Bovary“ und die eimergroße Arsenflasche – so zu sehen in dem Tanzstück von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin. Foto: Serghei Gherciu
Und dann auch noch das: Eine tänzerische Perle wie Haruka Sassa, die neu im SBB ist und vom Ballett Dortmund bzw. aus Stockholm kommt, tanzt als Gruppentänzerin im Ensemble, als sei sie einen großartigen Einstand in der deutschen Hauptstadt nicht wert. Den wird sie aber hoffentlich noch bekommen: am 10.11.23 als „Dornröschen“, ebenfalls in der DOB.
In „Bovary“ haben die Tänzer derweil immerhin viel zu tun, am Ende steht ein großer Teil des Ensembles beim Applaus auf der Bühne.
Gisela Sonnenburg
Online auf arte concert (bis zum 18.01.24)